BERLIN TRANSFER hat die Koordinatorinnen der drei Berliner Projektverbünde gefragt: Stefanie Hutsch (IdeAl für Berlin - Integration durch europäischen Austausch lernen, Träger: KIDS&CO g.e.V.), Christine Scherer (Netzwerk-Event Berlin, Pfefferwerk AG) und Madelonne von Schrenck (Job Destination Europe, Projekt-Verbund aus u.bus GmbH und Bildungsmarkt e.V.).
BT (BERLIN TRANSFER): Die Mobilität von Jugendlichen und all die Chancen, die sie mit sich bringt, fällt in diesen Monaten auch der Covid-Notlage zum Opfer. Worin besteht, Ihrer Erfahrung nach, der Mehrwert solcher Auslanderfahrungen für die jungen Menschen?
CS (Christine Scherer): Der Mehrwert ist, bezogen auf unsere Zielgruppe, dass sie überhaupt ins Blickfeld nehmen, in Europa ein Praktikum machen zu können. Das war vorher nicht der Fall, es war etwas für Studierende oder für Jugendliche aus finanziell gut ausgestatteten Familien, die während der Schulzeit eine Zeit im Ausland verbracht haben. Dass dieses Projekt benachteiligte, bildungsferne Jugendliche und junge Erwachsene, die sich so was sonst nicht leisten könnten, in den Fokus gerückt hat, ist neu und etwas Besonderes. Wir haben es hier mit einer Zielgruppe zu tun, deren Status es ist, dass sie gerade nichts machen und die Zeit genutzt wird, um sich neu zu orientieren. Das ist auch das Besondere an diesem Programm, dass man es in einer Zeit macht, in der man pandemiebedingt gerade nicht weiß, wo es hingeht.
MvS (Madelonne von Schenck): Für unsere Teilnehmer*innen ist unser Programm ein Cut in ihrer Biografie. Sie haben meist viele Probleme gehabt, bis sie zu uns kamen. Sie haben einen negativen Blick auf ihre Biografie und ein IdA-Projekt gibt ihnen die Möglichkeit, aus diesem Umfeld herauszugehen, physisch und psychisch, sich auf was Neues einzulassen und durch die Vorbereitung neue Ideen zu bekommen, und durch dieses begleitete Auslandspraktikum diese ganz neue Erfahrung zu machen. Wenn ich an das Feedback vieler Teilnehmer*innen aus vielen Jahren zurückdenke, ist dieses ‚Herausnehmen‘ aus dem negativen Umfeld und dieser Schritt in eine ganz andere neue Umgebung ein Riesenkick, der dem Selbstvertrauen und der Orientierung dient.
BT: IdeAl für Berlin hat als Zielgruppe auch Alleinerziehende. Schafft Ihr es, sie mit Euren Projekten zu erreichen?
SH (Stefanie Hutsch): Ja, auf jeden Fall! Wir haben einige Länder, wie Frankreich und Italien, in denen es möglich ist, für alleinerziehende Mütter oder Väter mit Kindern in Vorschulalter am Projekt teilzunehmen. Für die Eltern ist es eine Möglichkeit, zu sehen, wie der Einstieg in Arbeit, z.B nach der Elternzeit, gelingen könnte, wenn die Kinder zu Hause in Berlin in der Kita eingebunden wären. Es ist schön, zu beobachten, wie die Eltern in ihren Kompetenzen, in ihrem Selbstvertrauen gestärkt werden, während die Kinder in ihren ausländischen Kitas auch große Entwicklungsschritte mitmachen. Und auch die Rückmeldungen vom Jobcenter sind sehr positiv bezüglich dieser Zielgruppe. Eine weitere Zielgruppe, die Teilnehmer*innen mit Lernbeeinträchtigungen, werden im Ausland viel eigenständiger, da sie dort ihren Alltag meistern müssen. Sie bekommen in den Monaten eine Klarheit über ihre Stärken und ihre Grenzen: was können sie, was können sie nicht, und was wollen sie, wenn sie in Berlin zurück sind.
BT: Konnten Teilnehmer*innen in diesen Monaten wegfahren?
CS: Eine unserer Gruppen ist gerade in Belfast. Die Teilnehmer*innen sind im Herbst weggefahren, in der kurzen Zeit, als es möglich war. Unsere für den Frühling geplanten Aufenthalte in Italien und Spanien haben wir abgesagt; einige der bereits angemeldeten Teilnehmer*innen aus diesen beiden Gruppen haben sich auf Nordirland umorientiert. Wir haben aber viele Bewerbungen für das neue Jahr. Das Interesse ist trotz Corona nicht verebbt.
SH: Von den drei Auslandsaufenthalten, die wir für dieses Jahr geplant hatten, ist der Erste im Januar gestartet. Die Gruppe ist nach Italien gefahren, ins Piemont. Sie ist dann knapp vor dem Lockdown im März zurückgekommen, d.h. wir mussten die Nachbereitung digital machen, über Skype, weil wir digital noch nicht gut aufgestellt waren. Das hat erstaunlich gut geklappt, obwohl wir keine Routine darin hatten. Erfahrungsgemäß ist es bei den IdA-Projekten so, dass die Anwesenheit der Teilnehmer*innen nach der Rückkehr nachlässt, weil diese einen Motivationstief erleben. Digital haben wir die Erfahrung gemacht, dass alle kontinuierlich anwesend waren. Die Online-Nachbereitung hat gut funktioniert, weil sich die Teilnehmer*innen durch den Auslandaufenthalt bereits kannten. Eine andere Gruppe ist im Sommer nach Griechenland gefahren, da konnten wir die Vorbereitung in Präsenz, bzw. im Garten machen: digital wäre es schwierig gewesen, da sich die Teilnehmenden noch nicht kannten. Im März sollte eine Gruppe nach Schweden fahren, aber da es nicht abzusehen war, wie sich die Lage entwickelt, haben wir diese Reise abgesagt. Wir werden sie eventuell im März 2021 nachholen.
MvS: Wir haben die erste Gruppe aus Marseille kurz vor dem Lockdown nach Berlin zurückholen müssen, nach den ersten drei Wochen des Aufenthaltes. Wir haben die Nachbereitung auch digital gemacht: Präsenz und Pünktlichkeit waren bei uns auch super, besser als ‚live‘, zumal es keine Anfahrten gab! Die Teilnehmenden waren alle enttäuscht, dass sie früher zurückfahren mussten, aber selbst in diesen drei Wochen haben sie viele neuen Inputs bekommen. Einigen von ihnen haben wir angeboten, mit der nächsten Gruppe im Sommer nach Linz mitzufahren. Die Gruppe konnte dort, bei unserem österreichischen Partner, das Programm bis zum Ende durchführen. Die dritte Gruppe sollte im Herbst diesen Jahresnach Marseille fahren. Diese Fahrt haben wir aufgrund der dramatischen Entwicklung in Südfrankreich abgesagt. Den Teilnehmer*innen abzusagen, nachdem wir mit ihnen die Vorbereitung gemacht haben, war das Schlimmste in diesem Jahr. Einige haben wir auch für zukünftige Fahrten verloren, und daran erkennt man, dass sie am Programm vor allen wegen des Auslandsaufenthalts teilnehmen.
BT: Wie haben Eure Partnerorganisationen auf die Absagen reagiert?
MvS: Zum Glück haben wir Partner, die sehr verständnisvoll mit der Lage umgehen, obwohl sie sehr viel Aufwand mit der Organisation haben, vor allem mit der Suche nach Unterkünften und nach den passenden Praktikumplätzen, und Verpflichtungen für uns eingegangen sind. Sie wissen aber, dass wir so was nicht leichtfertig machen, dass wir sie nicht als reine Servicestelle für unsere Projekte ansehen, sondern als Partner, mit dem wir die Dinge gemeinsam entwickeln und auch Entscheidungen partnerschaftlich tragen.
CS: Wir haben die Absage gemeinsam und auf Augenhöhe mit der transnationalen Partnerorganisation getroffen, und mit allen Beteiligten – Personal, Teilnehmer*innen, Familien. Wir haben alle Aspekte erwogen und dann entschieden. Auch bei unseren Incoming-Gruppen mussten wir auch viele Dinge erwägen und zum Teil umdisponieren, bei denen wir keine Vorerfahrung im Umgang mit solchen Situationen hatten: können die Teilnehmenden bei den Unternehmen überhaupt arbeiten? Müssen wir sie digital ausstatten? Welche Unternehmen stellen ihre Praktikumsplätze trotz Corona weiterhin zur Verfügung?
SH: Auch die Unterkunftsituation musste komplett überdacht werden, alle zusammenwohnen ging nicht. Wir waren im engen Austausch mit unserem schwedischen Partner, der eine Gruppe zu uns nach Berlin schicken wollte, und der sich in derselben Situation befand. Wir sind gemeinsam durch diese Krise gegangen und das hat die Partnerschaft gestärkt.
BT: Was hat die digitalisierte Kommunikation für die Projekte bedeutet?
CS: Wir hatten auch in den letzten Jahren immer wieder Video-Konferenzen gehabt, in der Vorbereitungsphase, um mit den Partnern zu kommunizieren, oder damit sich die Teilnehmer*innen und die Unternehmen online vorstellen und kennenlernen konnten. Jetzt ist es selbstverständlicher geworden, dass man so was online macht, die digitalen Tools sind auch viel besser geworden. Wir sehen es als eine wichtige Qualifikation, um arbeiten zu können, und für die Jugendlichen ist es auch eine Möglichkeit, um den Kontakt nach Hause aufrechtzuhalten. Wir bieten z.B. dem Jobcenter an, über diesen Weg den Kontakt zu den Teilnehmer*innen zu halten, während des Auslandaufenthalts.
SH: Bei der Umstellung auf digitale Kommunikation sind wir aber oft auch an unsere Grenzen gekommen: nicht alle Teilnehmer*innen verfügen über WLAN zu Hause, oder verfügen über die Technik, um eine stabile Leitung hinzubekommen. Das waren und sind Schwierigkeiten, auf die wir immer wieder stoßen. Trotzdem denken wir, dass es für die Jugendlichen wichtig ist mit solchen Schwierigkeiten umzugehen und über solche Prozesse digitale Kompetenzen für den Arbeitsmarkt zu erwerben. Dennoch ersetzt das Digitale nicht den persönlichen Kontakt. Das haben wir bei IdA-Projekten immer wieder festgestellt: die Zielgruppe bleibt eine Zielgruppe, die den persönlichen Kontakt braucht. Aber als Ergänzung ist die digitale Lösung sehr wertvoll.
MvS: Bei der Sprachvorbereitung der Gruppe hatten wir das Glück, dass die Lehrerin einen guten digitalen Unterricht gestalten konnte. Teilnehmer*innen sind in der Regel offen für Online-Tools, es ist für sie spannend, digitale Kompetenzen zu erwerben. Aber wir haben auch festgestellt, dass im Online-Unterricht die Zurückhaltenden unter ihnen eher dazu neigen, sich noch mehr zurückzuziehen. Dafür haben wir noch keine Lösung gefunden.
CS: Was nicht wirklich gut funktioniert, ist die Gruppenarbeit miteinander. Die Interaktion unter den Teilnehmenden selbst ist nicht leicht zu organisieren, wenn sie sich vorher nicht kennen. In Präsenz kommunizieren sie auch im Flur miteinander, in den Pausen, nach dem Unterricht. Online sind sie nur auf die Person fixiert, die moderiert, und die Interaktion miteinander kommt häufig nicht zustande.
MvS: In der Nachbereitung ist es weniger problematisch, da sich die Gruppe in den Monaten im Ausland kennengelernt und interagiert hat, sich gegenseitig unterstützt hat. Dieser Beziehungsaufbau, der ja auch ein Teil des Konzeptes ist, ist mit digitaler Kommunikation schwieriger zu realisieren.
BT: Gab es in diesen Monaten eigentlich Zeit, sich um Evaluation zu kümmern und sich über neue Konzepte auszutauschen?
MvS: Es gab unheimlich viel zu tun, all die Anpassungen vorzunehmen, zumal die Umstellung auf Digital von einem Tag auf den anderen passieren musste: Da hat es geholfen, dass es im Team auch Menschen gibt, die eine gewisse Affinität zum Digitalen haben. Wir haben die Zeit auch zu unserer eigenen Fortbildung für die Nutzung digitaler Tools und Lernplattformen genutzt. Aber auch diejenigen, die diese Prozesse koordinieren mussten, haben viel mit der vertraglichen Rekonstruktion der Kooperationsprozesse zu tun gehabt, der ganzen Verträge und Agreements mit den Partnern, auch im Verhältnis zu den Zuwendungsgebern, um diese Anpassungen ‚genehmigt‘ zu bekommen.
BT: Wie haben die Geldgeber, das Bundesministerium für Arbeit und das Bundesverwaltungsamt auf diese Situation reagiert? Gab es Verständnis?
CS: Es hätte sein können, dass das Programm in dieser Situation eingestellt worden wäre, da es in Zeiten der Pandemie sehr unsicher ist, dass Jugendliche ins Ausland fahren können. Die Zuwendungsgeber haben unsere Suche nach flexiblen Lösungen aber mit Verständnis und Kulanz begleitet. Das schätze ich sehr. Ich denke, es ist allen Beteiligten schnell deutlich geworden, dass das Programm auch mit solch einer Herausforderung leben muss. Erinnern wir uns an die Grenzschließungen dieses Frühjahrs. Wenn wir Europa wollen, sollte sich so etwas nicht wiederholen. Dafür ist unser Programm wichtig, und da ist diese Haltung insgesamt auch wichtig. Und das wurde uns von allen Beteiligten und Partnern signalisiert.
MvS: Es ist wirklich eine der wenigen positiven Dinge dieses Jahr, dass relativ schnell die Bestätigung gekommen ist, dass der Wille von allen Seiten da ist, das Programm durchzuhalten. Weil es für die Teilnehmer*innen, in erster Linie, aber auch für die Idee der grenzübergreifenden Arbeitsmarktpolitik viel zu wichtig ist, als dass man es fallen lassen könnte. Es war sehr positiv, dass uns der lange Atem vermittelt wurde, auch finanziell, und dass alle Seiten daraufsetzen, dass es weiter geht.
IdA Berlin - Projektverbünde im Handlungsschwerpunkt "Integration durch Austausch" der ESF- Integrationsrichtlinie Bund